Essai 102: Über Shitstorms und Wutbürger im Internet

Früher, als noch nicht jeder einen Internetanschluss hatte, konnten Politiker, Schauspieler und andere öffentliche Personen ruhig Quatsch erzählen, in Fettnäpfchen treten oder sich grob unhöflich aufführen, ohne dass das große Konsequenten gehabt hätte. Ich spreche von einer Zeit, die die unter Zwanzigjährigen, die Digital Natives, vermutlich nicht mehr kennen und sich auch nicht vorstellen können. Ja, damals hat man sich auch an Verabredungen halten müssen, weil man nicht mal eben mit dem Handy Bescheid sagen konnte, man komme später. Es gab keine sozialen Netzwerke, keine Blogs (wir hatten stattdessen Poesiealben und Tagebücher, alles analog), keine eigenen Homepages und so weiter. Das war nicht unbedingt besser, aber auch nicht schlechter, sondern einfach anders. Hat sich also in dieser grauen Vorzeit jeder privat und für sich in Ruhe aufgeregt, wenn ein Promi sich daneben benommen hat (bei ganz üblen Verstößen gegen das Gemeinwohl gab es auch mal Zeitungs- und Fernsehberichte), fühlt sich offenbar heute jeder Wutbürger bemüßigt, seinen Unmut im Internet kund zu tun. Das, was dann auf den tollpatschigen Promi einprasselt, nennt sich gemeinhin Shitstorm.

Der neueste Fall eines Shitstorms wurde von Katja Riemann losgetreten. Sie hatte sich – vermutlich nichts Böses ahnend – in die NDR-Sendung „Das!“ zu einem Interview begeben und hatte auf die recht belanglosen Fragen etwas irritiert geantwortet. Offenbar, so meine Deutung der ganzen Affäre, war sie mit der Absicht in das Interview gegangen, über ihre Arbeit und ihre neuen Filme zu sprechen und das auf einem sehr hohen intellektuellen Niveau. Hinnerk Baumgarten, der Moderator hingegen, war vermutlich mit der Absicht ins Interview gegangen, den Menschen Katja Riemann kennen zu lernen, ihre private Seite zu beleuchten und sie dem Publikum menschlich näher zu bringen. Diese beiden konträren Motivationen sind aufeinander geprallt und es hat nicht funktioniert. Weder hatte Katja Riemann Lust, über ihr Privatleben zu reden (was ich sehr gut verstehen kann!) noch ist es dem Moderator gelungen, das zu akzeptieren und seine Interviewstrategie spontan an seinen etwas widerborstigen Gast anzupassen. Wahrscheinlich konnten die beiden sich schlichtweg nicht riechen, so ist das ja manchmal. Jedenfalls besteht meiner Meinung nach kein Anlass, Katja Riemann in irgendeiner Weise Arroganz vorzuwerfen. Natürlich hätte sie netter sein können, aber im Grunde war sie einfach ehrlich und das finde ich persönlich auch mal ganz erfrischend. Ein Problem ist jedenfalls auch, dass viele sich gar nicht das ganze Interview angesehen haben, sondern nur einen Zusammenschnitt, bei dem Katja Riemann tatsächlich ziemlich fies rüberkommt.

Aber mangelnde Information hat ja noch nie irgendwen davon abgehalten, sich künstlich aufzuregen. Erst recht nicht, wenn man das auch noch schön gesellig in der Masse machen kann, wo man sich dann auch noch gegenseitig hochschaukelt. Wie weiland aufgehetzte Bürger Fackeln und Mistgabeln schwenkend auf vermeintliche Ketzer losgingen, stürzen sich dann die selbstgerechten Wutbürger auf den bedauernswerten Promi und bombardieren diesen mit wüsten Beschimpfungen, üblen Beleidigungen bis hin zu regelrechten Drohungen. Manche Dinge ändern sich halt nie und vermutlich ist das auch ganz schön, wenn man seinen aufgestauten Frust und sorgfältig angesammelten Zorn mal an jemandem auslassen kann, den man gar nicht kennt. Und wenn dann noch andere dabei sind, die der gleichen Meinung sind, kann man ja auch nicht falsch liegen. Die eigenen Sünden verblassen zudem bis zur beinahen Unsichtbarkeit, wenn man mit dem Finger auf jemanden zeigen und lauthals krakeelen kann, der sei ja wohl viel schlimmer als man selbst. Außerdem muss man sich dann für eine kleine Weile nicht mehr mit wichtigen Dingen herumärgern, wenn man auf andere Leute wegen vermeintlicher oder tatsächlicher Fehltritte eindreschen kann. Das ist nicht nett, aber meiner bescheidenen Ansicht nach, schlichtweg menschlich. Das liegt offenbar einfach in unserer Natur, dass wir lieber unsere Zeit damit verplempern, anderen Leuten ihre Fehler in den schillerndsten Farben vorzuhalten, anstatt mal an unseren eigenen Fehlern zu arbeiten. Ich nehme an, ich bin da auch nicht anders, aber so genau weiß ich das nicht, schließlich sind wir alle mit einer eklatanten Selbstgerechtigkeit gesegnet, ohne die wir wohl nicht vorwärts kämen. Man stelle sich vor, jeder würde ständig jeden seiner Schritte und Entscheidungen hinterfragen. Das kann dann ja lange dauern, bis da mal ein Schritt gegangen oder eine Entscheidung getroffen wurde.

Wie dem auch sei, ich fände es um des allgemeinen Friedens willen dennoch wünschenswert, wenn man gelegentlich kurz innehielte, bevor man fremde Leute wüst beschimpft. Das sind ja schließlich auch nur Menschen, die manchmal eben blöd sind. Natürlich kann man denjenigen sachlich kritisieren und demjenigen sagen, man habe Missfallen an dessen Verhalten gefunden. Aber es müssen doch nicht immer gleich verbale Mistgabeln und rhetorische Fackeln sein, mit denen man auf denjenigen welchen einprügelt. Erst recht nicht so feige im Schutz der Masse. Und erst recht nicht aus so niederen Beweggründen, dass man einfach nur von seinem eigenen Frust ablenken will. So was finde ich erbärmlich. Und helfen tut das auch niemandem. Außerdem, bevor man jemanden kritisiert, sollte man sich informieren und gucken, ob man nicht vielleicht auch falsch liegt. Das kann nämlich auch mal passieren und dann zurück zu rudern, nachdem man schon auf jemanden eingedroschen hat, ist ja mal richtig peinlich.

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3 Antworten to “Essai 102: Über Shitstorms und Wutbürger im Internet”

  1. Johannes Says:

    Liebe Isa!
    Erstmal Gratulation zu über 100 Essais! Sehr oft stimme ich mit deiner Sicht der Dinge überein, aber der aktuelle Text scheint mir einseitig zu sein („unzutreffende oder zumindest übertriebene Vorwürfe“)… allein die Wortschöpfung „Shitstorm“ unterstellt ja bereits unsachliche Kritik. Ein Thilo Sarrazin beispielsweise wurde wegen seiner „rassentheoretischen Thesen“ in „Deutschland schafft sich ab“ auch Opfer eines Shitstorms, und auch hier dürften die meisten Tweets nicht erst nach vollständiger Lektüre seines Buches erfolgt sein. Ist dies deswegen unberechtigt? Klar sollten Zitate nicht aus dem Zusammenhang gerissen werden, aber deine Forderung, man dürfe nicht einzelne Fragen und Antworten eines Interviews betrachten, ohne das komplette Interview zu würdigen, geht aus meiner Sicht zu weit (und dürfte praxisfern sein)-
    Und übrigens: Shitstorms müssen sich nicht zwingend gegen Personen richten, mindestens ebenso häufig sind Unternehmen das Ziel, siehe z.B. eine von Greenpeace gegen Nestlé imitierte Kampagne [http://www.greenpeace.de/themen/waelder/presseerklaerungen/artikel/nestle_will_nach_greenpeace_kampagne_urwald_schuetzen]; ein aus meiner Sicht eindrucksvolles Beispiel, dass der Shitstorm (und die damit verbundene öffentliche Aufmerksamkeit) Positives bewirken können!
    Viele Grüße!

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  2. Isabelle Dupuis Says:

    Stimmt, das sind berechtigte Einwände mit plausiblen Gegenbeispielen. Tatsächlich hat es auch etwas Positives, dass sich nicht jeder, der ein bisschen was zu sagen hat, jede Schweinerei leisten kann, ohne dass das auffällt. Manchmal sind die Vorwürfe berechtigt. Da muss ich wohl meine Meinung etwas relativieren und unterscheiden, wann ein Shitstorm angebracht ist und vielleicht auch die tatsächlichen Übeltäter zu einer Änderung ihres Verhaltens bewegt, und wann der Shitstorm – wie bei meinem Katja Riemann-Beispiel – eher einer Hexenjagd ähnelt und „Unschuldige“ erwischt.

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    • Johannes Says:

      Ohne das Riemann-Interview zu kennen: Das klingt nach einem guten Kompromiss! 🙂 Zumal wahrlich nicht geleugnet werden kann, dass selbst bei Web2.0-Massenprotesten (aka Shitstorms), ob „berechtigt“ oder nicht, in der Tat normalerweise viele Posts/Tweets/… trittbrettfahrende Beleidungen sind, die sich gegenseitig in ihrer künstlichen Aufregung noch zu übertreffen suchen.

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