Essai 99: Über den Umgang mit intoleranten Ignoranten

Gestern habe ich mich über die intoleranten Ignoranten ereifert, die anderen Leuten völlig grundlos verbieten wollen, zu heiraten. Ein Kommentar auf meiner Facebook-Seite hat mich nun in eine Art moralisches Dilemma versetzt: „Ich meine, dass die Kunst in der Demokratie darin besteht, unterschiedliche Meinungen stehen zu lassen und Kontroverses kontrovers diskutieren zu können, ohne sich gegenseitig als Ignorant zu bezeichnen. Sonst ist das intolerant“.

Da dachte ich, verdammt, das stimmt. Indem ich religiöse Fanatiker als intolerante Ignoranten und Vollidioten verurteile, zeige ich mich ihnen gegenüber ebenfalls intolerant. Auf der anderen Seite schaffe ich es beim besten Willen nicht, deren Meinung widerspruchslos zu akzeptieren und zu sagen, kein Problem, dann sehen die das halt anders. Ich kann mir nicht helfen, ich finde das einfach hochgradig borniert und unendlich dämlich, wenn man völlig frei von vernünftigen Argumenten anderen Menschen unnötig das Leben schwer macht. Das kann ich doch nicht einfach so tolerieren oder etwa doch? Und macht mich das dann automatisch zu einer antidemokratischen, scheinheiligen Faschotussi wenn es mir nicht gelingt, religiöse und andere Fanatiker weiter ihre Hasstiraden salontauglich unter die Leute bringen zu lassen, ohne mich darüber aufzuregen?

Wie also geht man mit Intoleranz um? Gewalt erzeugt Gegengewalt, das wissen nicht nur die Die Ärzte mit ihrem Schunder-Song. Da Intoleranz auch eine Form von Gewalt ist, möchte ich mal behaupten, ist es also ganz natürlich, dass ich darauf mit Gegenintoleranz reagiere? Dann wäre ich aber nicht so vernünftig denkend, wie ich es mir einbilde, wenn ich einfach instinktiv reagiere. Das kratzt ganz schön an meinem Selbstverständnis, das muss ich mal ganz ehrlich zugeben.

Muss man sich denn  im Namen der Toleranz jeden Scheiß gefallen lassen? Aber wenn man so anfängt und jeder hält irgendetwas anderes für „Scheiß“ dann regiert hier bald die allumfassende Intoleranz und das kann ja nun auch nicht das Ziel sein. Aber alles stillschweigend ertragen und erdulden, alles hinnehmen und nichts sagen, das hat ja nun noch nie irgendwem irgendwas genützt. Im Gegenteil. Solche Mitläufer tragen eine menschenverachtende Dikatur mit und reden sich hinterher damit heraus, dass sie ja von nichts gewusst hätten.

Was soll man dann tun, um bornierte Schwachköpfe zum Nachdenken zu bringen? Wenn vernünftige Argumente, gutes Zureden, friedliches, freundliches Bitten nichts ändern? Allerdings bringt es auch nichts, sich über sie aufzuregen. Was man auch tut, die sind so gefangen in ihrer Gedankenwelt, wo es nur „richtig und falsch“, „Schwarz und Weiß“, „gut und böse“ oder eben „Homo und Hetero“ gibt und wo diese Dichotomien absolut unvereinbar sind, dass man mit allem was man tut, ob pazifistisch oder nicht, auf Granit beißt. Und, es tut mir leid, aber ich schaffe es einfach nicht, da ruhig zu bleiben und zu denken, sollen sie mal machen und ich kümmer mich derweil um meinen Kram und gut ist. Da sträuben sich mir die Nackenhaare, kräuseln sich die Zehennägel, platzen mir Hutschnur und Kragen. Erst recht, weil ich weiß, dass das überhaupt nichts bringt, sich aufzuregen. Auf solche Pattsituationen, die man weder mit gesundem Menschenverstand noch mit sonstwas auflösen kann, komme ich nicht klar.

Also, halten wir fest: Man kann nichts gegen Idioten, die dumme Parolen durch die Gegend krakeelen, tun. Sie denken so oder so nicht nach, ob man sich nun ereifert, oder sie einfach machen lässt. Vermutlich wäre man also besser dran – vorausgesetzt, man möchte seine Ruhe haben – sie schlichtweg zu ignorieren und sich nicht über sie aufzuregen und sie einfach weiter lauthals Quatsch verzapfen zu lassen. Damit lässt man den Schreihälsen aber viel mehr Raum, als für das friedliche Miteinander gut ist. Das will man ja nun auch nicht. Und das ist die Stelle, wo sich die Katze in den Schwanz beißt und ich nicht weiterkomme. Sobald man die fanatischen Querulanten nämlich in ihre Schranken weist und ihnen nicht den Raum gibt, den sie für sich beanspruchen, verhält man sich nicht mehr hundertprozentig demokratisch und tolerant und das will man sich doch auch nicht zuschulden kommen lassen. Aber wie kann man denn Intoleranz mit Toleranz begegnen und wie kann man antidemokratische Meinungen mit demokratischen Mitteln im Zaum halten? Ich weiß es nicht. Denn wenn man das Gegenteil tut, ist man schwuppdiwupp in einer Gewaltspirale drin, die noch mehr Schaden anrichtet, als die Idioten allein. Keine Ahnung, wie man aus diesem Dilemma wieder herauskommt.

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6 Antworten to “Essai 99: Über den Umgang mit intoleranten Ignoranten”

  1. Isabelle Dupuis Says:

    Hier ein spannender Kommentar, der mich zu dem Thema auf meiner Facebook-Seite erreicht hat und den ich lohnenswert finde, zu veröffentlichen. Auf weitere Meinungen und Standpunkte bin ich schon sehr gespannt. Im Folgenden also eine andere, sehr interessante Sicht auf den von mir diskutierten Sachverhalt.

    „Die im Raume stehende Frage betrifft den angemessenen Umgang mit „intoleranten Ignoranten“.

    Zunächst einmal ist es schön, dass es noch Menschen gibt, die überhaupt die Bereitschaft mitbringen, sich mit solchen Fragen auseinanderzusetzen. Im Allgemeinen hat sich eine Form der Massenbewegung gebildet, die erst abwartet, welche vermeintliche „Norm“ von einer vermeintlichen „Mehrheit“ vorgegeben wird, um diese dann weitestgehend kritikfrei zu übernehmen. Daraus resultiert dann häufig eine Form der Kommunikation, die weite Teile des Höflichkeitsspektrums vernachlässigt und sich als ultimative Wahrheit in den Köpfen manifestiert, das sogenannte „Bashing“. In diesem Rahmen werden Menschen mit abweichender Wahrnehmung als „dumm“, „ungebildet“ oder „Idioten“ bezeichnet, wobei man zum krönenden Abschluss wahlweise die Nazikeule schwingen oder den pauschalisierten Antisemitismusvorwurf anwenden darf, um auf jeden Fall auf der moralisch sicheren Seite zu stehen.

    Diesen Weg wollen wir heute, so bequem und etabliert er auch sein mag, nicht gehen, sondern wir beschreiten den unbequemen Weg der Analyse, haben etwas Interpretation im Gepäck und würzen unsere karge Wegzehrung der Selbstreflexion mit einer Prise Philosophie. Nicht sehr schmackhaft, aber voller Nährwert.

    Zunächst widmen wir uns dem Grundproblem: „Intolerante Ignorante“, was machen die eigentlich?

    Dem Namen nach sind das Menschen, die von anderen Grundsätzen, Menschen- und Weltbildern nichts wissen wollen, also so tun, als gäbe es diese nicht (Ignorante). Ein nicht vorhandenes oder bestrittenes Weltbild kann aber weder toleriert noch nicht toleriert werden, denn Toleranz meint ja, anzuerkennen, dass es Überzeugungen, Handlungswesen und Sitten gibt, die man nicht teilt, aber bereit ist, sie so stehen zu lassen, ohne sie zu übernehmen.

    Die Steigerung davon wäre die Akzeptanz, die die Bereitschaft signalisiert, diese Überzeugungen etc. anzunehmen, sie zu billigen oder anzunehmen.

    Den zu diskutierenden Begriff gibt es in der Form also nicht. Schade.

    Der Essai 99 bietet zum Glück noch vieles an, dass man zur Reflexion bringen kann, deshalb widme ich mich jetzt den Fragen: Wie übe ich denn Toleranz und wem gegenüber? Ab welchem Punkt ist Toleranz nicht mehr das geeignete Mittel, und wenn man sich gegen Überzeugungen zur Wehr setzt, ist man dann zwangsläufig intolerant?

    Nun bin ich, Jahrgang 1968, in meinem Leben schon vielen Steinen begegnet, die es aus dem Weg zu räumen galt, der Stein der Weisen ist mir dabei nicht begegnet. Deswegen verfüge auch ich leider nicht über unverrückbare Wahrheiten, rein weiß und knitterfrei.

    Der Weg, Toleranz auszuüben, führt nach meiner Meinung über die Empathie. Der Versuch des Hineindenkens in den Menschen, der eine mir fremde Überzeugung aufweist. Gelingt das, wird man zwangläufig feststellen müssen, dass diese Überzeugungen nicht dumm und unlogisch, sondern auf der Basis, auf der sie entstehen, durchaus klug und logisch sind. Daraus folgt, dass wenn man die Ebenen der Diskussion nicht angleicht, eine Diskussion schlicht nicht möglich ist. Wer bewegt sich denn aber in den Ebenen? Die Antwort ist: Du.

    Argumentativ schlagen kannst du dich nur auf dem Terrain deines Gegenübers. Versuchst du herauszufinden, welche Motivation dieses hat, kannst du gegen argumentieren. Die Verfechter der gleichgeschlechtlichen Partnerschaft haben gänzlich andere Motive als die der Gegner, die meist in traditionellen Weltbildern denken. Da haben wir es schon, das Wort. Traditionell. Aus traditioneller Sicht wirst du feststellen, dass diese Leute nicht keine Argumente haben, sondern welche, die du als Progressive nicht verstehst, weil sie, ganz banal, nicht progressiv sind.

    Damit sind sie also weder dumm, noch ignorant noch irgendetwas anderes, das Beschimpfungen rechtfertigen würde. Die einzige Möglichkeit, sich dagegen zur Wehr zu setzen, ist die demokratische, nämlich zu demonstrieren, dass diese Meinung nicht mehrheitsfähig ist. Eine Anti-Nazi-Demonstration, die völlig ohne Beleidigungen auskäme, wäre also ebenso effektvoll, wenn nicht effektvoller.

    Macht es dich dann automatisch zu einer antidemokratischen, scheinheiligen Faschotussi wenn es dir nicht gelingt, religiöse und andere Fanatiker weiter ihre Hasstiraden salontauglich unter die Leute bringen zu lassen, ohne dich darüber aufzuregen?

    Nein, das tut es nicht. Nur, indem du deine Aufregung kundtust, in dem du diese Worte wählst, dann erzeugst du eine Gegenreaktion, die dafür sorgt, dass ihr, statt zusammen zu finden, um eine gemeinsame Daseinsform zu finden, immer weiter auseinander driftet. Bedenke: Aus deren Sicht sind es keine Hasstiraden.

    Dein Weg wäre also folgerichtig nicht, deine Überzeugung zu ändern oder sie zu verschweigen, sondern in schlichter Schönheit zu formulieren: „Ich respektiere, aber teile deine Ansichten nicht und werde deswegen für meine Überzeugungen eintreten.“

    Kommst du heute so in einer Diskussion daher, klingt das zugegebenermaßen etwas oldschool, und man muss ja auch an seine Sozialisation denken, deshalb formuliere dir das mundgerecht um, ich bin sicher, du verfügst über ausreichend Eloquenz.

    Im Verlauf dieses Geschreibsels sind Worte gefallen, die wesentlich sind, um Toleranz zu trainieren und anzuwenden, ohne dabei seine Überzeugungen zu verleugnen. Die Worte „Empathie“ und „Respekt“.

    Respekt bezeugst du immer dann, wenn du akzeptierst, dass jede Überzeugung in etwas wurzelt, in Tradition, in Erziehung, in Erlebtem, was auch immer.

    Ausnahmen gibt es für alles, wenn jemand mit Flugscheiben auf der Rückseite des Mondes argumentiert, dann gibt es wenig Ansatzpunkte für Toleranz oder Akzeptanz. Das ist der Punkt, an dem ich selber meine ignorante Mütze bis über die Ohren ziehe. Wo dein Punkt erreicht ist, ergibt sich aus deinen Überzeugungen, lass dir niemals etwas anderes einreden, aber vergiss das Denken nicht.

    Ich habe keine Ahnung, ob das Geschriebene in irgendeiner Form für Lebensformen außerhalb meines Bewusstseins nachvollziehbar ist. Wenn du es als Geschwaller siehst, dann wird es das auch sein. In diesem Fall bitte ich dich, es in den Papierkorb zu stecken und niemals wieder herauszuholen.

    Mit besten Grüßen

    Frank Braunert-Saak“

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  2. fairgame8008 Says:

    Eigentlich habe ich den folgenden Kommentar ohne Bezug zu dem von Frank Braunert verfasst. Ich merke aber gerade, dass es einen gibt: meiner Überzeugung nach sind „Tradition, Erziehung, Erlebtes“, also seine genannten Wurzeln für Überzeugungen, mit einem gemeinsamen Nenner zusammenzufassen. Und der ist Ignoranz. Was da nämlich überall passiert, ist, dass sich eine oder einige Sichten, die alle andern von unzähligen möglichen Sichten ausschliessen, mit grossem Impact verankern, und das ist dann eine Überzeugung. Eine Überzeugung ist eine Unendlichkeit von möglichem Wissen auf einen Stecknadelkopf tatsächlichen Wissens reduziert. Da ist also 99,9 % Ignoranz für 0,1 % Wissen. Und um diese 0,1 % aufrecht zu erhalten, ist die Intoleranz gegenüber den 99,9 % Ignoranz erforderlich. Das ist ansteckend. Alle 0,1 % Stecknadelköpfe ziehen sich an und stossen sich ab, und bilden wie Sternenstaub Wolken, Sonnen und Planeten, Galaxien, Universen … das Blöde dabei ist, dass eine Xilliarde x 0,1 % keine 100 % ergibt, wenn die Abstossung zwischen ihnen die Aufhebung der Vereinzelung verhindert.

    So gesehen sind wir im Schnitt zu 99.9 % Ignoranten. Oder zu 0,1 % Wissende, quod libet. 0,1 %, gerundet nichts. Ich weiss, dass ich nichts weiss.

    Gegen meine 99,9% Ignoranz hilft ein Wissen, das die 100 % wenigstens als Akzeptanz umschliesst: Ich weiss, dass ich nichts weiss. Aber das ist ein Quantensprung gegenüber gerundeten
    0 %, also 100 %. Eine andere Ebene in der Schichtung der Wissen-Ignoranz-Quanten. Auf dieser Ebene brauche ich mich nicht gegen Ignoranz zu wehren, die Abstossung wird überflüssig, die Vereinzelung entfällt, Addition wird möglich. Wenn ich mich mit einem anderen 0,1 Prozenter zusammentue, werden wir zwei 0,2 Prozenter.

    Soweit meine Reaktion auf Frank’s „Wurzeln von Überzeugung“; resp. ein Zeigen auf die grosse Ignoranz, die mit ihrer gewussten Manifestation einhergeht.

    Ich weiss, dass ich nichts weiss. Das wäre doch mal ein Prinzip der Annäherung an Intoleranz, und vor allem auch an Ignoranz. Mit dieser Einstellung kann die Ignoranz anderer befruchtend dafür sein, etwas mehr darüber herauszufinden, was man denn hier nicht weiss. Dabei entpuppt sich die Ignoranz anderer wie auch die eigene nicht selten als Treppe von höherer (99,9 %) zu tieferer (99,5 %) Ignoranz. Auf dieser Himmelstreppe (sie geht nach oben, wenn man das Wissen anschaut) ist Dein Blog ja schon mal eine gewaltige Stufe … Du gibst Nichtwissen zu! Ein Quantensprung! Eine Offenbarung!

    Aber hilft das der Demokratie und für eine bessere Welt? Auf den ersten Blick nicht, denn genau die schlimmsten Ignoranten (die 0,09-%er) wollen ja erst recht davon nichts wissen, dass sie nicht wissen. 99,91 % Ignoranz brauchen deutlich mehr Ignoranz, sie zu ignorieren, als bloss 99,9 % Ignoranz. Da kann man sich kein Nachlassen beim Ignorieren erlauben … Die Frage bleibt, was kann man für oder gegen oder mit Ignoranten anfangen?

    Eine mögliche Antwort verlangt einem allerdings immer wieder Entscheide ab – die Entscheide, will ich nun meine Ruhe haben (dann einfach ignorieren) oder will ich hier versuchen, ein klein bisschen Ignoranz „auf die Himmelstreppe“ zu bringen?

    Entscheide ich mich für letzteres, dann muss ich die Impulse, „sachlich“ dagegenzuhalten, beiseite schieben. Die Art Ignoranz, die einen überhaupt erst zum Argumentieren bringt, ist Argumenten ja nicht zugänglich. Ich muss nicht auf die Ignoranz, sondern auf den Ignoranten eingehen.

    Irgendwo hat dieser Mensch eine Ignoranz, wo er bereit ist, auf die Treppe zu gehen. Wo er weiss, dass er nicht weiss. Wo er mehr wissen möchte. Und da lässt er mit sich reden. Da kann eine Diskussion mit ihm Früchte tragen – halt vielleicht nicht gleich im Feld seiner felsenfesten intoleranten Ignoranz, aber immerhin … Ignoranz bildet nämlich Klumpen, und um diese zu lösen, muss man halt da anfangen, wo man ein bisschen was davon lockern oder ablösen kann.

    Frag mal einen Schwulenhasser oder Homo-Ehe-Verbieter – aber frag ihn ehrlich, unter vier Augen, interessier Dich für seine Antwort, als logisches Geschoss und vor Publikum bringt es nichts – „wenn Du Dir vorstellst, damals, als Du gemerkt hast, dass Dich Mädchen anziehen, dass Du komische Gefühle im Bauch kriegst, wenn Dir eine besonders gefällt – hast Du ja nicht selbst gemacht, oder, das ist einfach passiert – wenn Du Dir nun vorstellst, dass Jungen so auf Dich gewirkt hätten, was hättest Du getan?“

    Bringt wohl kaum etwas bei einem, der sagt, „nichts gegen Schwule, aber …“. Da haben sich ein „alle gleich“ Wunsch und seine als Verdienst betrachtete sexuelle Orientierung, so oder so, schon zu sehr verklumpt (beides kommt ja aus Ignoranzen). Dann muss man eben einen anderen Ansatzpunkt finden – der obige ist ja auch bloss als Beispiel, nicht als Rezept, gemeint. Vielleicht wäre „hättest Du als Kind lieber nur eine Person, die Du liebst und die Dich liebt, oder doch lieber zwei, selbst wenn beide Frauen oder Männer sind?“ ein Zugang … Während ich aber mit dem ersten Beispiel schon mal erfolgreich „das Thema öffnen“ konnte, ist dieses zweite soeben erfunden.

    Oft ist es ein weiter Weg vom Einstieg über ein solches loses Ende bis zum Lösen der Ignoranz, deretwegen man angefangen hat.

    Das Seltsame dabei ist aber, dass dahin zu kommen unterwegs ziemlich unwichtig werden kann. Man fängt nämlich an, den Menschen zu entdecken, der für einen wegen seiner Ignoranz und der eigenen Intoleranz für sie vorher verborgen war. Und es geht dann nicht mehr darum, die Demokratie oder die Welt zu verbessern (und dabei noch recht zu bekommen), sondern sich mit jemandem wirklich echt auszutauschen. Dabei entklumpt jedenfalls eine Menge Ignoranz, auf beiden Seiten – ob genau diejenige vom Anfang dabei ist, ist weniger wichtig.

    Und dabei wird weder die Demokratie besser noch kriegt man recht, aber die Welt wird ein bisschen besser – mindestens für die zwei, denen das gegenseitige Entdecken nun mehr Spass macht als jedes sich mit Argumenten beschiessen.

    Geht aber nur im richtigen Leben – fast ausgeschlossen in Diskussionsforen und Gruppen und so. Da kann man ja weiter mit Intoleranz gegen Ignoranz aufeinander losgehen, mit oder ohne höfliche Scheintoleranz. Merke: Vor Zuschauern will keiner sein Gesicht verlieren, da muss er seine Intoleranz-Ignoranz-Schleife gegenüber der eigenen Ignoranz aufrechterhalten.

    Meine besten Freunde sind übrigens Ignoranten, jeder auf seine Art. Der Unterschied zu Nicht-Freunden liegt nicht darin, dass wir weniger ignorant sind als andere. Er liegt darin, dass wir gegenseitig tolerant sind – sogar zu den wesensdefinierenden Ignoranzen, die uns ausmachen. Das sind zwar unsere schlechtesten Aspekte, aber die einzigen in dieser Welt.

    Intoleranz gegenüber Ignoranz ist, was wir hier sind, was uns hier hält, worin unser Potenzial liegt, wozu wir da sind: beides auszuräumen, zu überwinden. Wissen zum Kumulieren gibt’s im Himmel. Es irgendwie hier schon zu schaffen ist der Himmel auf Erden. Zur Zeit argumentieren wir uns vorwiegend zum Teufel.

    Klingt wahrscheinlich alles völlig abgefahren, aber im Moment verstehe ich’s tatsächlich. Wenn ich’s dann morgen nochmals lese, haben vielleicht die Welt und ich mich wieder – mich, den intoleranten Ignoranten. Wer weiss, ob ich dann noch verstehe, womit ich Euch vollgetextet habe – Dich, Isabella, schon ein wenig virtuelle Freundin, und Dich Frank, gerade erst virtuell getroffen.

    Aber schön war’s. Danke fürs Hinhalten als imaginäre Gegenübers!

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  3. Isabelle Dupuis Says:

    Vielen Dank für den ausführlichen Kommentar, ich freue mich riesig, dass das Thema oder Dilemma, das ich hier zur Debatte gestellt habe, so spannende Reaktionen auslöst 🙂 Besonders interessant fand ich die Aussage „Ich muss nicht auf die Ignoranz, sondern auf den Ignoranten eingehen.“

    Vielleicht ist das eine erste Spur, den moralischen Knoten zu lösen. Tatsächlich dürfte es kontraproduktiv sein, wenn sich einfach nur alle über den jeweils anderen (aus ihrer jeweiligen Sicht den „Ignoranten“) aufregen und keiner dem anderen zuhört. Dann verurteilt man pauschal das, was man dem anderen als seine Meinung unterstellt. Wenn beide das machen, kann das ja ewig so weitergehen, ohne dass es jemals zu einer Lösung kommt.

    Also, ich gelobe Besserung und ehrliches Bemühen, nicht gleich auf die Palme zu springen, sobald jemand eine meiner Meinung nach „ignorante“ Ansicht äußert. 😉 Da hilft sicher eine kleine Perspektivübernahme, denn schließlich versteht der andere ja meine Meinung genau so wenig, wie ich seine. Und aus seiner Perspektive bin dann ich die „Ignorante“.

    Nichtsdestotrotz ist das wahrscheinlich in der Theorie leichter als in der Praxis 🙂

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  4. Frank Brauner-Saak Says:

    Ja, schön war’s.

    Ich musste es schon zweimal lesen, um ein mögliches Resultat für mich daraus abzuleiten.
    Es mag an den vielen Zahlen liegen, die mich verwirren… oder an den Bezügen zur Religion, die ich noch nie verstanden habe, egal in welchem Zusammenhang.

    Ich mag das Resultat aber ganz gerne, denn ich habe nicht den Eindruck, dass wir uns widersprechen, wenn es darum geht, die Motivation des Anderen zu ermitteln. Natürlich beruht der Vorgang auf dem Wissen um die eigene Unvollkommenheit und setzt diese auch bei anderen voraus.

    Ich mag den Satz: „meiner Überzeugung nach sind “Tradition, Erziehung, Erlebtes”, also seine genannten Wurzeln für Überzeugungen, mit einem gemeinsamen Nenner zusammenzufassen. Und der ist Ignoranz.“ Jedenfalls dann, wenn es nicht versehentlich geschah (merkst du es?)

    In diesem Punkt teile ich deine Ansicht nicht so ganz. Zur Ignoranz werden Überzeugungen wahrscheinlich erst dann, wenn man glaubt, diese Überzeugungen seien unverrückbar, obwohl sie vieles außer Acht lassen, außer eigenem Erleben.
    Und ich glaube daran, dass Empathie der Demokratie tatsächlich weiterhelfen kann.

    Vielen Dank dafür, dass ich als imaginäres Gegenüber hinhalten durfte. Nur so kann man seinen Horizont erweitern. Im realen Leben wirst du mich kaum so erleben wie hier. Ich reagiere eben auch emotional und unüberlegt, aber ich genieße es, wenn man mal über solche Dinge wie den grundlegenden Umgang miteinander nachdenken kann.
    Nicht zuletzt findest du mich überall unter Echtnamen deshalb, weil es mich dazu zwingt, vor dem Senden von Kommentaren Selbstkontrolle zu betreiben 😉

    Viele Grüße
    Frank

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  5. Frank Braunert-Saak Says:

    Toll. Jetzt habe ich meinen Namen falsch geschrieben…

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  6. Essai 135: Über die Suche nach einem Sündenbock | Isa09 - Angry young woman Says:

    […] ärgern, die eine meiner Meinung nach bescheuerte Meinung vertreten. Das hatte ich mir zumindest im Essai über den Umgang mit intoleranten Ignoranten vorgenommen. Aber das war, bevor diese Leute von Pegida und Hogesa und wie sie alle heißen sich […]

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