Essai 48: Über neospießige Anwandlungen meiner Generation

Ist schon mal jemandem außer mir aufgefallen, dass sich ständig alles wiederholt? Mit der Spießigkeit ist das genauso. Auf eine rebellische Generation folgt eine Generation, die ihre Ruhe haben und zu Hause spießigen Werten frönen will. Die Generation darauf freut sich einen Keks, weil sie dann wieder was hat, wogegen sie rebellieren kann (die spießigen Werte) und die Generation darauf ist dann von der Rebelliererei genervt und sehnt sich wieder nach Ruhe und Spießigkeit: Sturm und Drang – Weimarer Klassik. Dann kam die Romantik, das war wieder leidenschaftlich-rebellisch. Boah, ist das anstrengend, lasst mich doch alle in Ruhe, seufzten genervt die Biedermeier und zogen sich in ihre bürgerlich überschaubare Privatwelt zurück. Laaangweilig, stöhnten erst leise und zurückhaltend die poetischen Realisten, ein bisschen lauter die Naturalisten und dann ging das aber Anfang des 20. Jahrhunderts bis zum dritten Reich nochmal richtig los mit Symbolismus, Avant-Garde, Dadaismus, Expressionismus und hast-du-nicht-gesehen. Nach dem zweiten Weltkrieg (Währenddessen war man ja eher damit beschäftigt, Bücher zu verbrennen, als neue zu schreiben) wollten wieder alle ihre Ruhe haben. Nichts da, rebellierten die 68er, hier wird nicht einfach die Vergangenheit unter den Teppich gekehrt und alles, was wir falsch gemacht haben ignoriert. Kommt gar nicht in die Tüte! Tja und die Generation der Nach-68er ist im Grunde auch schon meine Generation.

Und ich schäme mich fast es zu gestehen, aber auch ich bemerke bei mir eine Vorliebe für meine-Ruhe-haben. Ja, ich sitze tatsächlich lieber gemütlich im Sessel und lese meinen Krimi, als draußen Autos anzuzünden. Natürlich gibt es auch die, die gerne Autos anzünden und alle verachten, die gemütlich im Sessel sitzen und ihren Krimi lesen, aber ich denke, das ist eher die Ausnahme. Ist auch die Frage, ob dieses Autos-Angezünde wirkliches Rebellentum ist, oder einfach nur eine ziemlich spießige Art, sich die Attitüde der echten Rebellen einer längst altersmilde gestimmten Generation kritiklos überzustülpen und gar nicht zu hinterfragen, ob man seine Ziele nicht auch auf sachlicherem und vernünftigerem Wege durchsetzen kann. Ich jedenfalls habe keine große Lust, mir anzuhören, was jemand zu sagen hat, der mir gerade meinen fahrbaren Untersatz abgefackelt hat.

Auch was die Rollenverteilung von Mann und Frau angeht habe ich den Eindruck, dass eine neue Spießigkeit durch die Köpfe weht. So viele junge Frauen, die das total in Ordnung finden, ihre beruflichen Ziele hinten an zu stellen, damit Männe sich selbst verwirklichen kann… Natürlich soll jeder nach seiner façon glücklich werden, aber… ach ich weiß nicht, ich finde diese „klassische“ Rollenverteilung in der Ehe einfach bescheuert, tut mir leid.

Nichtsdestotrotz ist diese Neospießigkeit auch bei jungen Schulabgängern zu beobachten. Wenn man die nach ihren Träumen und Wünschen fragt, da antworten die meisten „ein Haus, eine Familie, ein Hund“, die wenigsten aber antworten „Ich will die Welt neu gestalten“. Ich persönlich möchte am liebsten die Welt neu gestalten, indem ich gemütlich mit meiner Familie, meiner Katze (mag ich lieber als Hunde, weil weniger Gestank und mehr Schnurren) in meinem Haus sitze. Tja. Da muss ich mir noch was einfallen lassen, damit das funktioniert.

Aber im Ernst: Selbst die, die sich für ungemein rebellisch halten, sind megaspießig drauf. Swinger-Clubs, kann man sich was Spießigeres vorstellen? Sogar die Punks sind superspießig, weil sie alle untereinander gleich aussehen und es seit 20 Jahren nicht geschafft haben, sich mal neu zu erfinden, das ist immer noch das Gleiche wie zu Beginn dieser Bewegung.

Rebellentum ist nicht etwas, das man sich überstülpen kann wie eine zerissene Jeans oder Leoparden-DocMartens. Es kommt auch nicht automatisch, nur weil man ein eingekringeltes A als Button an seinen Rucksack heftet.

Oder was ist mit Gewalt und Vandalismus: Man erreicht eher das Gegenteil von dem, was man behauptet erreichen zu wollen (falls man überhaupt irgendein vorgeschobenes Ziel hat und nicht bloß aus Langeweile alles zerdeppert).

Heutzutage  ist Rebellentum wie eine Mode. Man rebelliert, weil es cool ist und weil die anderen das auch machen und man will ja nicht als Spielverderber da stehen. Aber es bleibt nur Oberfläche, nur Hülle, wie ein Kleidungsstück, dass man an- und wieder auszieht. Und DAS ist das, was wirklich spießig ist.

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3 Antworten to “Essai 48: Über neospießige Anwandlungen meiner Generation”

  1. isa09 Says:

    Ich sollte vielleicht noch hinzufügen, dass das was ich geschrieben habe zwar für die heimatlichen Gefilde gilt, nicht aber zwingend für die ganze Welt. Es gibt immer noch Orte, wo die Menschenrechte mit Füßen getreten werden und wo es alles andere als bloße Attitüde ist wenn das Volk sich irgendwann wehrt. Im Gegenteil.
    Aber wenn ich hierzulande irgendwelche Teenies sehe, die mit quietschrosa Pali-Tuch und lila Che-Guevara-T-Shirt herumhängen und mit ihrer Zeit nichts sinnvolles anzufangen wissen kriege ich das Kotzen!

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  2. Essai 57: Über Menschenbilder und Sozialcharaktere « Isa09's Weblog Says:

    […] Ich hab ja nichts gegen Gefühle. Wäre auch Quatsch. Gefühle sind da, ob sie einem passen oder nicht, und da muss man halt mit umgehen. Sie doof zu finden wäre da nicht sehr konstruktiv. Aber was ist denn das, dass alle so völlig hysterisch ihre “Emotionalität” so zur Schau stellen müssen? Überhaupt, dass das heutige Menschenbild von uns erwartet – oder genauer gesagt, dass unser Verhalten dieses Menschenbild konstituiert – , dass man sich selbst so inszenieren muss. Und wenn hier von “man selbst” die Rede ist, meint man damit das Gefühlsleben. Irgendwie ist es beinahe “verboten” sich vernünftig von seinem gesunden Menschenverstand leiten zu lassen. Dann ist man nämlich gleich ein Spießer. Oder ein Streber. Oder beides. Und der Streber-Spießer ist das absolute Feindbild unserer Generation. Und das obwohl meine Generation wieder sich nach Spießigkeit sehnt (siehe meinen Essai über die neospießigen Anwandlungen meiner Generation). […]

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  3. Isabelle Dupuis Says:

    Mittlerweile gibt es ja vereinzelt auch in westlichen Gefilden rebellische Bewegungen, wie „Occupy Wall Street“, die sich gegen die Gier und das Rafftum von Finanzhaien und Konsorten auflehnen. Stéphane Hessel, der noch im 2. Weltkrieg in der Résistance war, hat mit seiner Schrift „Empört euch!“ („Indignez-vous!“) möglicherweise eine Tendenz zum erneuten Paradigmenwechsel formuliert. Vielleicht ist die Zeit der neospießigen Anwandlungen vorbei und jetzt wird wieder rebelliert. Oder?

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